es ist bereits zu spät
es ist bereits zu spät

Leseprobe :

Vorwort u erstes Kapitel (Ende)

 

 

Dieses Buch dürfte eigentlich nicht geschrieben werden. Es gibt eine Kategorie von pessimistischen Weltsichten, deren Veröffentlichung lieber unterbleiben sollte. Kulturpessimisten wie Eduard von Hartmann, Emile Cioran, Schopenhauer und Mainländer sind heute nur noch einem kleinen Fachpublikum bekannt. Sie konnten sich gegenüber den Fortschrittsoptimisten nicht durchsetzen. Außerdem wären sie nicht in der Lage gewesen, den Pessimismus, den wir in den folgenden Kapiteln thematisieren wollen, aus ihrer Zeit teils 150 Jahre vorherzusehen. Die Industrialisierung hatte damals gerade erst an Fahrt aufgenommen, und die Weltbevölkerung betrug am Ende des 19. Jahrhunderts gerade einmal eine Milliarde Menschen. Dieser Pessimismus meint auch nicht den wissenschaftlichen Realismus, der uns sagt, dass die Erde keine bleibende Statt ist. Inzwischen dürfte sich herumgesprochen haben, dass wir allerlei kosmischen Gefahren ausgesetzt sind. Im Universum ist buchstäblich alles der Vergänglichkeit unterworfen; jede seiner zahllosen Gestaltungen existiert nur auf Zeit. Nichts wird überdauern, weder eine Mikrobe noch die Kulturschätze der Menschheit. Am Ende steht wieder der Anfangszustand, als nach biblischem Zeugnis die Erde wüst und leer war. Es ist jedoch sehr fraglich, ob wir diese Epoche überhaupt erreichen werden. Vorher lauern realistischere, zeitnahe Gefahren, die mit uns selbst, unserer Art zu denken, unserer Gier, unserem Lebensstil zu tun haben. Es sieht so aus, als ob das Experiment Menschheit gar nicht gelingen kann. Diese Form von Realismus erzeugt den Pessimismus, der die Kulturkritik früherer Jahrzehnte bei weitem übersteigt. Warum besitzt die Menschheit neben ihren exzellenten Fähigkeiten nicht die Begabung zum kollektiven Überleben? Das ökologische Umdenken, das etwa mit den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts begann, das ja in seiner Faktenlage und Prognostik an Realismus nichts zu wünschen übrig ließ, hat keineswegs zu der notwendigen Umkehr von falschen Wegen geführt. Wer auch nur einigermaßen hellsichtig die Zeichen der Zeit zu deuten vermag, der wird meinen Pessimismus teilen, dass es bereits zu spät ist; es ist nicht mehr fünf oder drei Minuten vor Zwölf, sondern bereits einige Minuten danach. Der Klimawandel ist Fakt und niemand kann mehr ernsthaft leugnen, dass er menschengemacht ist. Die Starkregenereignisse in unserem Land (Juli 2021), die mehr als 160 Todesopfer gefordert haben, die Dürren und Hitzewellen im Südwesten der USA sind deutliche Symptome des industrie- und wohlstandsbedingten Treibhauseffektes, der seit Jahrzehnten (!) bekannt ist.[1] Selbst wenn wir unverzüglich alle Emissionen auf null herunterfahren, würde es noch Jahrzehnte dauern, bis wieder ein Zustand eingetreten wäre, wie er etwa in der Mitte des 19. Jahrhunderts gang und gäbe war. China beabsichtigt erst in 40 Jahren seine Wirtschaft klimaneutral zu organisieren. Und das sind zunächst nur Absichtserklärungen. Offensichtlich gibt es starke politische und systemische Gründe, die gegen eine an sich notwendige Radikalbremsung sprechen. Wir stecken bereits in dem Verhängnis, dass wir die technische Seite der Umweltproblematik nur noch mit einem vermehrten Einsatz von Technik und digitalen Komponenten zu lösen trachten. Sollte der Einsatz von Großtechnologie ein Teil des Problems sein, so wären wir prinzipiell außerstande, einen alternativen Weg einzuschlagen. Ein Zurück in eine Welt vor der Zäsur von Wissenschaft und Technik ist uns verschlossen. Technik – und mag sie noch so smart daherkommen – wird immer neue, bislang unbekannte Problemlagen heraufbeschwören. Die folgende Untersuchung stellt sich nicht mehr die Aufgabe, nach Rezepten zu suchen, wie wir die gröbsten Fehler ausmerzen und dem Niedergang ausweichen könnten. Dazu gibt es genug Literatur. Wenn die ökologische Dekadenz schon unausweichlich ist, sollten wir neben den umwelt-„technischen“ Problemen wie Klimawandel und Müllproduktion die meines Erachtens wahren und entscheidenden Ursachen für das Desaster analysieren, und die liegen zum einen in uns selbst und in systemischen Prozessen, die wir offensichtlich nicht mehr kontrollieren können. Das Wort „Umweltkrise“ ist ein einziger Euphemismus. Nicht die Umwelt befindet sich in der Krise, sondern wir selbst sind diese Krise. Wir haben mit unserem verschwenderischen Lebensstil die Massen-Extinktion allen Lebens auf der Erde ausgelöst, und mittlerweile zeichnet sich deutlich ab, dass wir selbst zu den Verlierern gehören werden. Man muss sich doch fragen: wie konnte es so weit kommen, dass wir trotz unserer Vernunft gegen unsere fundamentalen Lebensinteressen handeln? Unsere Untersuchung wird zeigen, dass sowohl biologische, anthropologische, kulturelle, soziale und systemische Gründe hierfür verantwortlich zeichnen. Die uns bestimmenden Lebensantriebe, alle Widersprüche, Disharmonien und Unzulänglichkeiten haben in ihrem Zusammenwirken und in ihrer Ballung zu einem globalisierten Finanz- und Wirtschaftssystem geführt, das zu einem perfekten Selbstläufer geworden ist. Ihm dienen wir mehr oder weniger alle, und trotz unserer ökologischen Kenntnisse verhalten wir uns im Alltag vernunftwidrig und gleichen jenem armen Toren, der den Ast absägt, auf dem er sitzt. Wir haben angesichts der Notlage, in die wir geraten sind, keinen Grund mehr, uns etwas vorzumachen. Deswegen habe ich die Analyse noch weitergetrieben und verschärft in dem Kapitel „Wir haben die Orientierung verloren“. Wir haben die spirituelle oder religiöse Dimension verloren. Übrig bleibt dann nur noch ein platter Materialismus, dem es ums Kaufen und Verbrauchen, Geldverdienen und Statusaufwertung geht, ohne Rücksicht auf Verluste. Wir beschädigen bedenkenlos die Substanz, weil wir uns keinem größeren Ganzen mehr verantwortlich fühlen. Unser Ort innerhalb der Natur ist ungeklärt; man sieht nur auf das je-Eigene; was bedeutet uns der Kosmos um uns herum, wie sind wir eingebettet in seine grandiose Geschichte, die mit dem Urknall begonnen hat? Wir hören und sehen populärwissenschaftliche Sendungen dazu, das alles ist ja ganz interessant, doch es scheint uns nicht im Tiefsten zu berühren, es geht uns halt nichts an. Wir lassen uns davon nicht faszinieren. In dem Maße, wie die traditionellen religiösen Ideen an Autorität verloren haben, ist das Sinnvakuum mit pseudo- und ersatzreligiösen Inhalten gefüllt worden, die den Bezug des Menschen zur Ewigkeit zu götzendienerisch – endlichen und sichtbaren Heilsgegenständen heruntergebrochen haben. All das muss auf den Tisch. Es ist an der Zeit, den Menschen die Wahrheit zu sagen und die schönfärberischen, berufsoptimistischen Politikerreden aufzugeben. Die Fünf-vor-Zwölf-Metaphorik hatte einen nicht unerheblichen pädagogischen Nutzen, weil sie suggerierte: wir können den Niedergang aufhalten; jeder Einzelne ist aufgerufen, sein Umweltbewusstsein zu schärfen, begleitet von den notwendigen Verhaltensänderungen. Die gegenteilige Fünf-nach-Zwölf-Ansage hat nur schwarze Pädagogik zur Folge: es bringt nichts mehr; wir werden ohnehin untergehen, und dann können wir auch so weiterleben wie bisher, und der privaten Lebensform wird anheimgestellt, ob sie sich von Umweltthemen beeinflussen lässt oder nicht. Darum der erste Satz. Macht es Sinn, ein solch pessimistisches Buch zu schreiben, das keine Hoffnung mehr vermittelt? Wir treiben auf einen katastrophischen Abgrund zu, von dem die Klimakrise und die ökologischen Probleme nur Teile sind. Die schiere Menge an Dissonanzen, Widersprüchen, ökosozialen Teilkatastrophen, massiven Problemen, die von Lösungen weit entfernt sind, hält uns einen Spiegel vor, der uns Szenarien vor Augen führt, die uns grausen machen sollten. Ein, zwei Probleme wären sicherlich lösbar; ihre Fülle und Massivität jedoch gibt für Optimismus wenig Raum. Dieses ökologische Desaster vollzieht sich in einer hochgerüsteten, unfriedlichen Welt mit einem immer noch rasanten Bevölkerungswachstum. Die Umwelt- und Menschenkrise trifft auf Failed-States, die überhaupt nicht dafür gewappnet sind. Wir werden in naher Zukunft von einem Notstand in den anderen geraten. Während man ein Problem halbwegs löst, entstehen fünf andere. Man kann sich darüber streiten, ob es eine finale Katastrophe gibt, einen gigantischen Kataklysmus oder ob die Lebenssubstanz unseres Planeten mehr und mehr erodiert und der Niedergang ein schleichender und allmählicher sein wird. Fest steht: er ist schon im Gange! Wir befinden uns in einem globalen Massenexperiment, das eigentlich niemand gewollt haben kann. Die Zeit ist nicht fern, wo wir nur noch reagieren können bzw. müssen, um die ärgsten Folgen unserer selbstsüchtigen Lebensweise abzumildern. Ich denke, es gibt auch eine Pflicht gegenüber der Wahrhaftigkeit. Wenn die Menschheit sich schon selbst in eine wahnwitzige Lage gebracht hat, der ein kollektives Scheitern folgen wird, dann sollten wir wenigstens die Ursachen kennen, die uns in diese ausweglose Situation gebracht haben. Die Kenntnis dieser Gründe wird zu keiner Umkehr mehr führen, weil der Mensch dazu weder willens noch in der Lage ist. Ich halte einen Bewusstseinswandel der Massen für ausgeschlossen, wenn dieser eine Abkehr von materialistischen Verhaltensweisen bedingen würde. Deswegen bleibt keine Hoffnung mehr. Viele der Ursachen sind seit Jahrzehnten bekannt, und es hat sich nur oberflächlich, gewissermaßen umwelt-kosmetisch etwas, bei weitem zu wenig geändert; ja, ich habe den Eindruck, dass in der Tiefe das Problem noch gar nicht recht bekannt ist. Mit winzigen, homöopathischen Dosen in Sachen Umweltschutz, die keinem wirklich wehtun, ließ sich jedenfalls keines der Probleme bislang nachhaltig lösen. Als Pfarrer i.R. müsste ich eigentlich von berufswegen für einen letzten Rest an Optimismus sorgen. Andererseits sind wir alle der Wahrhaftigkeit verpflichtet, und angesichts der Dauerkrise, in der wir uns mittlerweile befinden, bringen Beschönigungen oder gar Lügen überhaupt nichts. Wer auf eine metaphysische Welt rekurriert, der vermag sich wenigstens noch einen Rest Trost zu behalten, dass es eine Art von Lernen gibt in der und für die Ewigkeit, dass die schrecklichen Fehler des Homo sapiens, die zu seinem Untergang führen, nicht gänzlich umsonst waren.

 

Klaus Windhöfel, Berlin im September 2021

 

 

 

 



[1] Just am Tage der Korrektur des Vorworts lese ich von den Nachwirkungen des Tropensturms „Ida“ in New York. Sintflutartiger Regen hat die Straßen teils bis zu einem Meter überflutet. Seit den Wetteraufzeichnungen hat es dort so heftig nicht geregnet. Überall ist von „Jahrhundertereignissen“ die Rede und von einem Level der Katastrophen, der weit über den bislang bekannten Höchstwerten liegt. Das sind deutliche und unverkennbare Zeichen des Klimawandels. 

Ende erstes Kapitel:

 

Der bekannte Autor Ronald Wright („Eine kurze Geschichte des Fortschritts“) hat vor einigen Jahren einen Roman geschrieben mit dem Titel „Die Schönheit jener fernen Stadt.“ Der Zivilisationskritiker malt ein Bild der Zukunft, das ich für durchaus realistisch halte. Ausgehend von seiner Kernthese, dass alle Zivilisationen nach einer Zeit der Blüte und der üppigen Verschwendung unausweichlich ihrem Niedergang entgegengehen, sobald die Ressourcen erschöpft sind, beschreibt er den fiktionalen Untergang der gesamten Menschheit. Der Protagonist, ein Archäologe, findet die Zeitmaschine von H.G. Wells berühmter Erzählung aus dem Jahr 1895. Er reist damit 500 Jahre in die Zukunft Londons. Er ist zunächst der einzige Mensch weit und breit. London ist von Dschungel überwuchert, da das Klima offensichtlich subtropisch geworden ist. Die ehemaligen Zivilisationsprodukte sind in ihrer ursprünglichen Form und Funktion nicht mehr zu erkennen. Er betreibt nun sein Handwerk der Archäologie aus künftiger Sicht und arbeitet sich Schicht für Schicht bis in die Gegenwart vor, aus der er abgereist ist. Die Zeugnisse, auf die er stößt, sind rar; aber Mosaiksteinchen für Mosaiksteinchen setzt sich eine finale Katastrophe zusammen, auf die wir vermutlich zusteuern, wenn sich nicht grundlegend vieles ändert, und zwar schnell. Er macht sich auf einen langen Weg nach Schottland, weil er dort, wo es nicht so heiß ist, mit Überlebenden rechnet. Unterwegs besucht er sein ehemaliges Internat und führt dort eine Grabung durch in der Hoffnung, Einzelheiten zu finden, die über Verlauf und Art der Katastrophe Auskunft geben. Auf die stößt er auch; nur sind die Dokumente leider völlig degeneriert, und er ist auf Vermutungen angewiesen. Durch Interpretation von Inschriften, Brandstätten, fast unleserlichen Zeitungsartikeln und Briefen, die besorgte Eltern ihren Kindern im Internat geschrieben haben, rekonstruiert er folgendes Gesamtbild: nicht nur eine Ursache hat zum Untergang geführt, sondern viele Ursachen, die sich jetzt schon in unserer Gegenwart abzeichnen: Klimawandel, Gentechnik, Epidemien, Vergiftungen, grassierende Armut, Übervölkerung. Nicht zuletzt dürften auch Revolutionen, soziale Unruhen und kriminelle Machenschaften in dem ganzen Chaos den Niedergang beschleunigt haben. Die staatliche Ordnung muss wohl auf breiter Front zusammengebrochen sein. Während seines Fußmarsches durch das verwilderte England schreibt er einen Brief an seine ehemalige Geliebte und Kommilitonin, Skeffington war ihr gemeinsamer Philosophie-Professor. „Erinnerst du dich noch, was uns Skeffington immer gesagt hat? Dass man´s bei der Archäologie immer gleich beim ersten Mal richtig machen muss, weil es keine zweite Chance gibt? Weil Ausgrabungen immer auch Zerstörungen sind? Ich glaube, das gilt auch für den Fortschritt. Eine Zivilisation wie unsere bricht ständig alle Brücken hinter sich ab; wir hatten bloß eine Chance. Wir hätten´s beim ersten Mal richtig hinkriegen müssen.“[1] Schließlich trifft er auf ein paar Dutzend Menschen, die sich trotz der Katastrophe fortpflanzen konnten, die zurückgefallen sind auf das Niveau der Prähistorie. Sie können die wenigen Überbleibsel der Zivilisation nicht mehr lesen, und die christliche Kreuzestheologie, von denen sie nur ein paar Dokumente aufbewahren, verstehen sie wortwörtlich. Das Menschenopfer wird bei ihnen wieder praktiziert. Sie haben den Bezug zur Symbolik verloren. Der Archäologe kann nur mit Mühe die Flucht ergreifen vor dem auch für ihn vorgesehenen Kreuzestod. Die Message ist eindeutig: am Ende fällt die stark dezimierte Menschheit wieder alle mühsam errungenen Kulturstufen zurück auf ihre dunklen Anfänge fernab jeglicher Zivilisation. „Wir hatten bloß eine Chance.“ Ich halte das für eine treffende Umschreibung unserer Lage: Das System, das wir kreiert haben, duldet keine Umkehr mehr. Wir können von einem falschen Weg nicht mehr zurückkehren. Sind erst einmal alle fossilen Energiereserven ausgebeutet und umgesetzt in zum Großteil nutzlose Abwärme, einem fragwürdigen Individualverkehr geopfert und verwandelt in schädliche CO2 Emission, dann bekommen wir nie mehr die Geister in die Flasche zurück. Hat sich dieses gewaltige Projekt gelohnt? Nur für den Siegeszug des Autos als Massengut? Wozu die Natur Hunderte von Millionen Jahre benötigt hat, das verheizen wir in wenigen Jahrzehnten. Einmal entdeckt, hat es sogleich dem Menschen zur freien Verfügung gehört. Bedenkenlos wurden diese Schätze der Erde geplündert und für den kapitalistischen Verwertungsprozess nutzbar gemacht. Aus einigem Abstand betrachtet, war diese Vergeudung eine einzige Dummheit. Eine dreiste Fressorgie ohne Sinn und Verstand. Wir haben wahrlich alle Brücken hinter uns abgebrochen. Wir müssen mit der Erderwärmung leben, die dann Fakt ist und sich nicht mehr vermindern lässt; künftige Generationen werden ihrer Möglichkeiten beraubt, wichtige Produkte aus dem Erdöl herzustellen (über 130 Produkte werden allein auf Basis dieses wichtigen Rohstoffs hergestellt). Die Vorräte sind definitiv endlich, soweit man sie auch strecken mag mit der umweltschädlichen Fracking-Methode, einer Gewinnung von Erdöl aus Ölschiefer mittels Einsatz eines chemischen Cocktails, den man unter die Erde pumpt, was weitere Umweltschäden nach sich ziehen wird. Fortschritt im Rahmen der europäischen Tradition hat zwangsläufig immer auch Abbau und (Natur)Zerstörung zur Folge. Deswegen bricht das System für uns alle Brücken ab und hinterlässt wie beim Rückzug von Truppenteilen im Krieg nur verbrannte Erde. Das multikausale Szenario des Autors finde ich realistisch. Es wird nicht die eine Ursache für den schnellen oder schleichenden Niedergang geben, sondern eine ganze Palette davon. Wir werden ein Problem in Zukunft halbwegs gelöst haben und schon sind neue Probleme entstanden, mit denen man gar nicht gerechnet hätte. Geschichte ist freilich immer ein Prozess, bei dem sich kaum etwas voraussagen lässt. Das war eigentlich nie ein Problem, bevor infolge des Einsatzes von Großtechnologie die Welt irreversibel verändert wurde. Wir schaffen heute jene unveränderlichen Tatsachen, unter denen wir bzw. unsere Kinder und Enkel in Zukunft leben und wohl auch leiden müssen. Auf allen Kulturstufen vor der industriellen Revolution waren die Eingriffe des Menschen in die Natur jeweils überschaubar, und Schäden konnten meist repariert werden. Die Natur holte sich zurück, was ihr zustand und stellte das Ökosystem auch für den Menschen wieder her. Doch heute ist dies gar nicht mehr möglich. Nachdem eine Pflanzen- oder Tierart ausgerottet ist, wird die Evolution niemals mehr die Chance haben, diese verlorenen Arten wieder in ihr Ökosystem einzubauen. Das Genom ist aus dem Buch der Natur getilgt und kann auch uns nicht mehr helfen, z.B. bei der Entwicklung neuer Medikamente. Die Natur wird unter allen Umständen überleben, auch nachdem der Mensch abgedankt hat, aber auf einem anderen Niveau. Die Hinterlassenschaften der Menschen werden noch über Jahrtausende sichtbar sein. Atomwaffen, Reaktoren, strahlender Restmüll, Gifte, biologische und chemische Massenvernichtungswaffen werden das natürliche Antlitz der Erde noch lange prägen. In meiner damaligen Vikariatsstelle 1986 in Wuppertals Elberfelder Nordstadt stand auf einer Mauer ein Graffiti geschrieben, das ich seitdem nie mehr vergessen habe. Es klang wie ein Menetekel: „Wir sind in ein gigantisches Experiment gestürzt!“ Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass wir bei diesem Experiment, das so recht wohl keiner gewünscht haben könnte angesichts der jetzt deutlich werdenden katastrophalen Folgen, sowohl die Rolle der Wissenschaftler in den sauberen weißen Kitteln einnehmen als auch die der erbärmlichen Laborratten. Wir sind eben beides: Täter und Opfer. Alles was wir machen oder unterlassen, fällt auf uns selbst zurück. Wenn Flora und Fauna ein Bewusstsein hätten, dann würden sie uns zum Teufel wünschen. Errare humanum est. Wir sind irrende Wesen. Das Prinzip „Tryal and Error“ (Versuch und Irrtum) ist allen bekannt und eine der häufigsten biologisch-evolutionären und persönlichen Lernmethoden. Die Volksweisheit „Gebranntes Kind scheut das Feuer“ bezeichnet den oft schmerzlichen Weg, über Fehler zu lernen. Man wiederholt den Fehler nie mehr, nachdem einem Schaden zugefügt wurde. Besonders dramatisch verhält es sich, wenn es bei einem drohenden Unfall um Sekunden geht. Wir sind für eine solch schnelle Reaktion, wie sie etwa auf der Autobahn erforderlich wäre, um Gefahrensituationen zu begegnen, biologisch nicht ausgerüstet. Oft tut man in Panik das Falsche. Im Rückblick möchte man zum unversehrten Ausgangspunkt zurück und den Fehler korrigieren. Man sieht das Unglück auf sich zukommen, kann aber die Fehlentscheidung nicht mehr zurücknehmen. Unglücke, so schlimm sie auch für Familien sind, sind Einzelschicksale, die durch das durchschnittliche Schicksal der Mehrheit wieder wettgemacht werden. Solidarität, Mitleid und Versicherungsleistungen vermögen in Grenzen die Fehlentscheidungen einiger Weniger wieder auszugleichen. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit befinden wir uns in der tragischen Lage, dass dieser Fehlerausgleich und die Korrektur der Schäden durch die Solidargemeinschaft nicht mehr praktikabel sind. Kollektiv rasen wir auf einen Abgrund zu in einem Fahrzeug, bei dem wir nicht wissen, wie man die Bremse betätigt. Aufgrund der bleibenden, anlagebedingten Defizienz des Menschen hätte man unbedingt darauf achten müssen, alle Systeme, technische Errungenschaften, Netzwerke, Finanzmärkte, globalisierter Ökonomismus fehlerfreundlich zu gestalten. Gegen diese Sicherheitsvorkehrung hat man sträflich verstoßen. Es liegt am Tage: Das Gesamtsystem wird früher oder später kollabieren; es kann hingegen nicht grundlegend reformiert und korrigiert werden, dazu ist seine Eigendynamik zu groß. Diesen Selbstläufer stoppt niemand mehr! Das war in unserem Umweltdesaster mit Sicherheit der größte Fehler. Man hat die anthropologischen Unzulänglichkeiten der Akteure einfach ignoriert. Wir sind alles andere als perfekt – so hat die Natur uns entlassen -, sie selbst macht laufend Fehler, die sie über die Selektion korrigiert. Alles was vom Menschen organisatorisch seinen Ausgang nimmt, enthält dieselben Fehlerquellen und weist einen ähnlichen Mangel an Perfektion auf, wie dies auf Einzelne und Gruppen zutrifft. Wer im Kasino beim Roulette sein ganzes Vermögen auf „rot“ setzt, begeht einen schweren Fehler, selbst wenn er gewinnt, denn er hat das große Risiko falsch berechnet. Ebenso hätte er verlieren können und wäre jetzt bettelarm und fiele dem Gemeinwesen zur Last. Wir haben permanent auf eine Farbe gesetzt, haben zunächst große Gewinne gemacht und wundern uns jetzt, dass das nicht ewig so weitergeht. Die Einsätze wurden immer größer, und es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis die falsche Farbe fällt, und wir werden den gesamten Einsatz verlieren. Bei diesem gigantischen Selbstläufer-System aus Hochtechnologie, Wissenschaft, Ökonomismus, Konsumismus und autonomen Finanzmärkten hätte man unbedingt Sollbruchstellen und Notbremsen einbauen müssen, wissend um unsere Anfälligkeit für Irrtümer. Man hat nicht einmal einen intrinsischen Mechanismus für Entschleunigung vorgesehen, um in Ruhe nachdenken zu können, wie wir das System wieder auf gesunde, heilsame Wege zurückbringen. So ist es eigentlich kein Wunder, dass uns gegenwärtig alles über den Kopf wächst und die Wogen über uns zusammenschlagen. Dies alles hätte man schon vor 50 Jahren wissen können, als uns noch zwei Supergaus von Atommeilern bevorstanden. Ich bin jedoch im Zweifel, ob man damals noch das System hätte abbremsen und verändern können, weil es sich schon zu einem globalen Moloch zu entwickeln begann. Das Resultat war ein halbherziger Umgang mit der Umweltkrise nach dem Motto „wir schaffen das!“ Umweltschutz wurde zum Systemstabilisator. Die eigentlichen Ursachen wurden allenfalls von politischen Außenseitern benannt. Prinzipielle Systemkritik war tabu. Kaum jemand wollte im öffentlichen Diskurs quer durch das Parteienspektrum eine Grundsatzdebatte über kapitalistische und finanztechnische Strukturen, vermutlich aus Angst vor sozialistischen Umtrieben und aus der Verlegenheit, überhaupt keine Alternativen zu kennen. Ich mache den Politikern den Vorwurf, dass sie auch gar nicht danach gesucht haben. Die Megamaschine musste eben weiterlaufen, und keiner wollte als Bremser verschrien sein, der Sand ins Getriebe streut. Deswegen hat sich in den letzten 50 Jahren rein gar nichts verändert, außer dass einige Vokabeln ausgetauscht wurden und unter nicht wenigen Intellektuellen und der urbanen, grün wählenden, akademisch gebildeten, jungen und gut verdienenden Stadtbevölkerung die Wahnidee umgeht, man könne ein Problem, beispielsweise den Klimawandel, vom Kontext isolieren und gesondert lösen, ohne das Gesamtsystem, von dem man ja durchweg profitiert, auf den Prüfstand zu stellen. Ich glaube, einige junge Leute von der FfF-Bewegung haben diesen Zusammenhang erkannt: wir selbst aufgrund unserer Unersättlichkeit, unserer Gier, unserer Ignoranz sind das Problem. Unsere Lebensstile sind schlicht und einfach falsch. Und auch diese schmerzliche Erkenntnis gehört dazu: wir haben Fehler gemacht, die man nie mehr wird korrigieren können. Man braucht sich nur die nüchternen Wachstumsziffern der letzten 50 Jahre anzuschauen, um zu der Einsicht zu kommen, dass sich qualitativ so gut wie nichts geändert hat. Alle Größen wie Bruttosozialprodukt, Einkommen, Stromverbrauch, Produktivität, Innovationskraft, CO2 Emissionen, Müllproduktion, Gifteinträge in Äcker, Meere und Nahrungsmittel, Nachfrage nach Stahl, Beton, Zement, Seltenen Erden und vieles mehr sind nicht etwa auf einem hohen Level eingefroren worden, sondern ständig angewachsen. Und es sieht nicht so aus, als würde sich dieser Trend ändern. Das kann kein gutes Ende nehmen. Wie lautet noch der Witz, der inzwischen zu einem Gemeinplatz geworden ist: Treffen sich zwei Planeten; fragt der eine: „Du siehst aber schlecht aus“; der andere: „Ich habe Homo sapiens“; der erste darauf: „Tröste dich. Das geht vorüber!“

 

 

 



[1] Wright, Die Schönheit jener fernen Stadt, S. 392